Heute wollten wir eigentlich endlich mal wieder früh los. Aber Sascha schläft wie ein Bär im tiefsten Winterschlaf. Ich entscheide mich dazu, ihn in Ruhe zu lassen und mache mich erst mal fertig. Punkt 9 Uhr stehen wir abmarschbereit vor der Herberge, aber irgendwas ist falsch. Sascha guckt mir blöd beim Grübeln zu und weiß nicht wovon ich fasel. Irgendwas hat doch hier gerade nicht hingepasst und das habe ich mir gestern Abend auch schon mal gedacht. Und dann weiß ich es. Die Kirchenglocken haben geläutet und das was sie geläutet haben, dass gehört hier nicht hin. Big Ben. Es war das Glöckenläuten von Big Ben. Als ich mir dir Kirchenglocken nochmal genauer angucke, versteh ich das Ganze auch. Die haben die durchaus vorhandenen Glocken durch Lautsprecher ersetzt und das ist tatsächlich niemand anderem von uns aufgefallen?! Irgendwie kommt mir dieser technische Fortschritt etwas zu übertrieben vor. Bevor wir nun, mal wieder als Letzte, starten gucken wir nochmal am Stall vorbei, um den beiden Reiterinnen Tschüß zu sagen. Buen camino, hoffentlich sieht man sich mal wieder.
Auf den ersten Kilometern kann sich das Wetter noch nicht so richtig entscheiden, aber es wird von Minute zu Minute besser. Den ersten Ort erreichen wir nach 8 km zwar noch mit Wolken, aber der Regen hat sich schon verzogen. Nach der obligatorischen Kaffeepause, geht's weiter auf die nächsten 10 km bis Hontanas. Zeitweise ist es schon richtig warm, am Himmel findet sich keine Wolke mehr. Bei einem Stück Tortilla und einem Cafe con leche versuchen wir per WiFi eine geeignete Zugverbindung zu Saschas Flieger zu suchen. Sascha hat von vornerein nur zwei Wochen auf dem Jakobsweg geplant und schon zu Hause einen Rückflug gebucht. Das WiFi spiegelt genau meine Meinung zu dem Thema wieder. Es tut einfach nix, es ist dagegen! Kein Zug zum Flug, dass wäre doch 1A, dann müßte Sascha schön mit mir weiterlaufen. Klar ist mir klar, dass Saschas Rückflug beschlossene Sache ist und ich freue mich auch für ihn, dass er sich auf zu Hause freut, aber wenn ich könnte, würde ich seinen Flug einfach stornieren. Wir harmonieren verdammt gut zusammen. Wir laufen zusammen, wenn wir uns etwas zu erzählen haben, wir laufen getrennt, wenn das Tempo nicht passt oder es einfach nix zu reden gibt. Wir streiten nicht, wir müssen keine besonderen Kompromisse auf uns nehmen, um miteinander auszukommen. Wir haben abends Spaß, vertreten erstaunlich häufig die gleiche Meinung, fühlen uns von den gleichen Personen genervt und mögen die gleichen Personen. Aber leider, leider nur noch für 3 Tage.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich auf dem Camino freiwillig so sehr an jemanden binde. Vor allem weil ich vor dem Camino darauf bestanden habe, unbedingt alleine reisen zu wollen. Ich weiß nicht, was Sascha darüber denkt, aber ich bin ganz besonders froh, ihn direkt am Anfang kennengelernt zu haben und werde ganz besonders traurig sein, den Rest des Weges bis Santiago ohne ihn gehen zu müssen. Ich war schon traurig über die 2 ½ Tage, die wir nicht zusammen gelaufen sind und hab mich höllisch darüber gefreut, dass wir uns wiedergefunden haben. Und nun, nach zwei tollen gemeinsamen Wochen, drei Wochen alleine?!?! Klar ist, so jemanden treffe ich auf dem Camino kein zweites mal und Sascha durch jemanden ersetzen, das würde ich nicht ansatzweise wollen.
Von Hontanas geht es weiter nach Castrojeriz. Auf dem Weg dorthin gibt es eine Klosterruine, in der es eine "Herberge" mit einigen Betten und fließendem Wasser geben soll. Dort treffen wir die zwei Amerikanerinnen wieder. Sie erzählen uns in Castrojeriz wären schon alle Herbergen voll, das hätten sie von einer Pilgerin gehört, die deshalb wieder auf dem Rückweg sei und nun haben die noch unerfahreren Amerikanerinnen Angst keinen Schlafplatz zu bekommen. Die provisorische Klosterherberge sieht allerdings verschlossen aus. Auch die ominöse Pilgerin schleicht, in der Hoffnung auf ein Bett, um die Ruine herum. Sie erzählt in Castrojeriz hätte sie aufgeschnappt das alle Herbergen "completo" wären. Selbst hätte sie bei nur einer nachgefragt und die hätten sie weggeschickt. Laut meinem Reiseführer gibt es allerdings 4 Herbergen und eine ganze Menge anderer Möglichkeiten, um in Castrojeriz unterzukommen.
Von solchen willkürlichen Aussagen von irgendwelchen Personen, die wiederum von irgendwel-chen Personen irgendwas gehört haben wollen geben wir nichts und gehen ungestresst weiter. Als wir ankommen ist es an sich noch früh genug um weiterzugehen aber Saschas Versuch Geld abzuheben kostet uns eine ganze Stunde. Danach hat keiner von uns beiden genug Motivation sich wieder aufzuraffen. Also gehen wir auf Bettensuche und haben 10 Minuten später unser Nachtlager bezogen. Wir kaufen Brot, Lachs, Chorizo, Oliven, Melone und Käse und picknicken auf dem Plaza Mayor. Camilla, die in der selben Herberge untergekommen ist wie wir, genauso wie die beiden Amerikanerinnen, der tschechische Aussteiger und Oli, leistet uns Gesellschaft.
Während wir so vor uns hinlästern, fragen wir uns wieso es eigentlich solche Menschen geben muss, die man auch wenn sie einem nichts getan haben, überhaupt nicht ausstehen kann. Und was macht man mit denen?! Jeder von uns hat auf dem Camino so jemanden kennengelernt und irgendwie werden wir die nie so richtig los. Sascha versucht es auf die rüpelhafte Methode. Er kann zu solchen Men-schen einfach nicht nett sein und stößt ihnen laut eigener Aussage vor den Kopf. Das gibt zwar Zoff aber meißt hat er danach seine Ruhe. Camilla und ich versuchen nett zu bleiben und ziehen diese Menschen an wie ein Magnet; so kommt es uns zumindest vor. Saschas Rückreise wird natürlich auch zum Thema und Camilla wüßte gerne, ob er glaubt sich anders verhalten zu haben als zu Hause. Sie selber glaubt offener zu sein, mehr auf Menschen zuzugehen und sich verbindlicher zu verhalten. Ich mach mir darüber ehrlich gesagt überhaupt keine Gedanken. Sascha glaubt genauso zu sein wie zu Hause. Er meint immer eine feste Bezugsperson zu brauchen auf die er sich verlassen kann und im Falle des Caminos will er die in mir gefunden haben. Im Vorfeld hatte ich mir Gedanken gemacht, ob ich für den Camino überhaupt gemacht bin. Ob ich überhaupt Leute finde mit denen ich mich verstehe. Und gerade die erste Person, die ich auf meiner Reise getroffen habe bezeichnet mich als seine Bezugsperson. Schön zu hören, dass es Sascha genauso geht wie mir. Vor dem Camino habe ich ganz viele wichtige Dinge gehört. "Jeder muss sein eigenes Tempo gehen.." "Gehe DEINEN Camino.." "Achte auf dich und nicht in erster Linie auf andere.." Das mag alles stimmen, aber für mich ist Rücksichtnehmen und das Zusammenbleiben mit Sascha obligatorisch geworden. Ich bin die 2 1/2 Tage auch hervorragend ohne ihn zurecht gekommen und habe nette Leute kennengelernt. Aber ich würde mich nicht wieder freiwillig von ihm trennen. Kann er nicht mehr, würde ich mein Tempo drosseln. Mit Sascha zu gehen oder eben auch stundenweise nicht mit ihm zu gehen aber ihn vor mir oder hinter zu wissen und sicher zu sein, dass er bei nächster Gelegenheit auf mich oder ich auf ihn warte ist um ein Vielfaches besser als nur MEINEN Camino zu gehen. Schade das UNSER Camino schon bald endet.